10
«Sind solche faustdicken Lügen wirklich notwendig, Poirot?», fragte ich im Gehen.
Er zuckte die Achseln. «Wenn man sich überhaupt auf Lügen einlässt – Ihre Natur, Hastings, sträubt sich, wie ich sehe, gegen das Lügen, aber mir macht das gar nichts – »
«Das habe ich bemerkt.»
«– wenn man sich aufs Lügen einlässt, dann wenigstens kunstvolle, romantische, überzeugende Lügen.»
«Halten Sie diese Lüge für überzeugend? Glauben Sie, dass Doktor Donaldson überzeugt war?»
«Der junge Mann ist ein Skeptiker», gab Poirot nachdenklich zu.
«Auf mich machte er einen ausgesprochen misstrauischen Eindruck.»
«Er hatte keinen Grund dazu. Jeden Tag schreibt irgendein Schwachkopf die Biografie irgendeines Schwachkopfs. Das ist jetzt Mode.»
«Das erste Mal, dass Sie sich selbst einen Schwachkopf nennen», meinte ich schmunzelnd.
«Ich kann jede Rolle spielen. Aber schade, dass Sie meinen kleinen Schwindel nicht für gelungen halten. Mir gefiel er recht gut.»
«Geschmacksache. Und was nun?»
«Wir fahren zu Morton Manor.»
Morton Manor war ein massiger, hässlicher viktorianischer Bau. Ein altersschwacher Butler ließ uns zögernd eintreten und kam gleich wieder zurück. Ob wir angesagt seien?
«Bitte, sagen Sie Miss Peabody, dass wir von Doktor Grainger geschickt sind!», antwortete Poirot.
Wir warteten ein paar Minuten, dann öffnete sich die Tür, und eine kleine, dicke Dame watschelte ins Zimmer. Ihr schütteres weißes Haar war in der Mitte gescheitelt. Sie trug ein schwarzes, an manchen Stellen blankgescheuertes Samtkleid und schöne Spitzen um den Hals, die mit einer großen Kameenbrosche festgesteckt waren.
Aus kurzsichtigen Augen sah sie uns an. Ihre ersten Worte waren überraschend.
«Haben Sie was zu verkaufen?»
«Nein, Madame.»
«Bestimmt nicht?»
«Bestimmt nicht!»
«Keine Staubsauger?»
«Nein.»
«Sicherheitsschlösser?»
«Nein.»
«Kalender?»
«Nein.»
«Schön», sagte Miss Peabody und setzte sich. «Nehmen Sie Platz! Sie haben keine Ahnung, wie viel Leute einem heutzutage die Tür einrennen.»
Poirot wiederholte seine Geschichte. Miss Peabody hörte ihm wortlos zu; nur dann und wann blinzelten ihre Äuglein. Endlich fragte sie:
«Ein Buch schreiben Sie?»
«Jawohl.»
«Auf Englisch?»
«Gewiss.»
«Aber Sie sind doch Ausländer?»
«Allerdings.»
Sie ließ den Blick zu mir wandern. «Sind Sie sein Sekretär?»
«J-ja», antwortete ich.
«Können Sie anständig Englisch schreiben?»
«Ich hoffe es.»
«Wo haben Sie studiert?»
«Eton.»
«Dann können Sie’s nicht!»
Ich musste diesen vernichtenden Vorwurf gegen einen altehrwürdigen Sitz der Gelehrsamkeit unwidersprochen lassen, denn Miss Peabody wandte sich erneut an Poirot. «Eine Biografie von General Arundell wollen Sie schreiben, eh?»
«Ja. Sie kannten ihn, glaube ich.»
«Ja, ich kannte John Arundell. Er trank. Aber über Indien kann ich Ihnen nichts erzählen. Ehrlich gesagt, hörte ich ihm nie zu, wenn er davon begann. Nichts Langweiligeres als diese alten Herren mit ihren Reminiszenzen.»
«Sie waren auch mit der Familie gut bekannt, nicht wahr?»
«Ja, ich kannte sie alle. Matilda war die Älteste. Eine verdrehte Person. Unterrichtete in einer Sonntagsschule. Dann Emily. War eine fabelhafte Reiterin. Die Einzige, die ihren Vater herumkriegen konnte, wenn er seinen Rappel hatte. Wagenladungen Flaschen wurden aus dem Haus weggeführt. Bei Nacht vergraben. Warten Sie, wer kam dann? Arabella oder Thomas? Thomas, glaube ich. Tat mir immer leid. Ein Mann und vier Frauen. Aber er war selber ein altes Weib, gewissermaßen. Niemand hätte gedacht, dass er je heiraten würde. War eine ungeheure Überraschung.»
Miss Peabody kicherte stillvergnügt, in Erinnerungen verloren. «Dann kam Arabella. Nichtssagend. Gesicht wie ein Karpfen. Heiratete trotzdem. Einen Chemieprofessor in Cambridge. Ziemlich alter Mann, mindestens sechzig. Arabella war auch kein Backfisch mehr. Vierzig oder so. Na, jetzt sind sie beide tot. War eine glückliche Ehe. Dann war da Agnes, die Jüngste – die Hübsche. Lustiges Ding, fast frivol. Und gerade sie hat nie geheiratet. Komisch!»
«Inwiefern», fragte Poirot, «kam Mr Thomas Arundells Verheiratung unerwartet?»
Abermals kicherte die alte Dame. «Ach, das war ein Riesenskandal! Hätte es ihm nie zugetraut – ein so stiller, schüchterner, zurückgezogener Mann, der nur für seine Schwestern lebte!»
Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie: «Es gab da einen sensationellen Fall – Mrs Varley. Soll ihren Mann mit Arsen vergiftet haben. Schöne Frau. Aufsehenerregender Prozess. Sie wurde freigesprochen. Um es kurz zu machen, Thomas Arundell verlor den Kopf. Las alle Verhandlungsberichte und schnitt die Bilder Mrs Varleys aus den Zeitungen. Ob Sie’s glauben oder nicht, nach dem Freispruch fuhr er nach London und machte ihr einen Heiratsantrag! Der stille Thomas!»
«Und was geschah weiter?»
«Oh, sie heiratete ihn tatsächlich.»
«Das muss für die Schwestern wohl ein großer Schock gewesen sein?»
«Das will ich meinen! Schnitten ihre Schwägerin. Kann es ihnen nicht verdenken. Thomas war tödlich beleidigt. Lebte irgendwo ganz zurückgezogen und ließ nichts mehr von sich hören. Weiß nicht, ob sie ihren ersten Mann wirklich vergiftet hat. Den zweiten, Thomas, jedenfalls nicht. Er überlebte sie um drei Jahre. Zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Hübsches Paar, der Mutter nachgeraten.»
«Kamen sie oft zu ihrer Tante auf Besuch?»
«Erst nach dem Tod der Eltern, als sie schon fast erwachsen waren, kamen sie über die Ferien. Emily stand damals allein in der Welt, und die beiden jungen Arundells und Bella Biggs waren ihre einzigen Angehörigen.»
«Biggs?»
«Arabellas Tochter. Fade Person – ein paar Jahre älter als Theresa. Beging auch einen Blödsinn. Heiratete einen Ausländer! Griechischer Arzt. Sieht schauderhaft aus, hat aber reizende Manieren, muss ich zugeben. Na ja, die arme Bella hatte keine große Auswahl. Half die ganze Zeit ihrem Vater bei der Arbeit und hielt ihrer Mutter die Wolle. Der Mann war exotisch, und auf das fiel sie herein.»
«Ist die Ehe glücklich?»
«Scheint so. Zwei Kinder, gelb wie Zitronen. Leben in Smyrna.»
«Aber jetzt sind sie in England?»
«Ja, kamen im März. Werden wohl bald wieder heimfahren.»
«Hatte Miss Emily Arundell ihre Nichte gern?»
«Ob sie Bella gern hatte? O ja. Langweilige Person, lebt nur für die Kinder.»
«War die Tante mit dem Mann einverstanden?»
Miss Peabody lachte. «Einverstanden gerade nicht, aber ich glaube, er gefiel ihr ganz gut. Er hat Köpfchen, wissen Sie. Wenn Sie mich fragen – er verstand es, sie richtig zu behandeln. Der Mann hat eine gute Nase für Geld.»
Poirot hüstelte. «Miss Arundell hinterließ, wie ich höre, ein beträchtliches Vermögen?»
Die alte Dame lehnte sich in den Stuhl zurück. «Ja, eben deswegen war der ganze Wirbel. Niemand ahnte im entferntesten, wie reich sie war. Der alte General hinterließ seinen fünf Kindern ein ganz nettes Stück Geld, das zum Teil günstig neu angelegt wurde. Thomas und Arabella nahmen natürlich ihre Anteile, als sie heirateten. Die drei Schwestern lebten hier und gaben nicht den zehnten Teil ihrer gemeinsamen Einkünfte aus; alles wurde wieder angelegt. Matilda hinterließ ihr Geld Emily und Agnes zu gleichen Teilen, und Agnes vermachte ihr Geld Emily. Sie gab nach wie vor wenig aus. Fazit: Sie starb als reiche Frau – und die Lawson kriegt alles!»
Triumphierend stieß Miss Peabody die letzten Worte hervor.
«Überrascht Sie das, Miss Peabody?»
«Offen gestanden, ja. Emily hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass nach ihrem Tod ihr Geld an den Neffen und die Nichten fallen sollte. So lautete auch das ursprüngliche Testament. Legate für das Hauspersonal und so weiter, alles andere zu gleichen Teilen an Theresa, Charles und Bella. Mein Gott, gab das einen Aufruhr nach ihrem Tod, als sich herausstellte, dass sie ein zweites Testament zu Gunsten von Miss Lawson gemacht hatte!»
«Wurde dieses Testament kurz vor ihrem Tod verfasst?»
Miss Peabody warf Poirot einen scharfen Blick zu. «Sie wittern Beeinflussung? Nein. Schlagen Sie sich das aus dem Kopf! Dieses arme Häschen, die Lawson, hatte weder Verstand noch Nerven genug zu so was. Sie war genauso überrascht wie alle anderen – oder behauptet es wenigstens!»
Poirot musste über den Zusatz lächeln.
«Das Testament wurde etwa zehn Tage vor ihrem Tod geschrieben», fuhr Miss Peabody fort. «Der Anwalt sagt, es geht in Ordnung. Na, kann sein.»
Poirot beugte sich vor. «Sie meinen –?»
«Irgendein Hokuspokus, erkläre ich Ihnen. Etwas faul dabei.»
«Haben Sie vielleicht eine Ahnung, inwiefern?»
«Keine blasse. Woher auch? Ich bin kein Rechtsanwalt. Aber etwas stimmt da nicht, das sage ich Ihnen.»
Langsam fragte Poirot: «Besteht die Absicht, das Testament anzufechten?»
«Theresa hat, glaube ich, das Gutachten eines Anwalts eingeholt. Wird ihr wenig nützen! Wie lauten solche Gutachten in den meisten Fällen? ‹Nicht prozessieren!› Fünf Rechtsanwälte rieten mir einmal von einer Klage ab. Und ich? Ich klagte. Und gewann den Prozess.»
«Vermutlich», sagte Poirot vorsichtig, «ist die – äh – Stimmung zwischen Miss Lawson und den Arundells ziemlich gespannt?»
«Das war doch zu erwarten. So sind die Menschen nun einmal. Wenn jemand stirbt und noch kaum kalt ist, kratzen die tief trauernden Hinterbliebenen einander schon die Augen aus.»
Poirot kam auf etwas anderes zu sprechen. «Ist es wahr, dass Miss Arundell sich mit Spiritismus befasste?»
Miss Peabodys durchdringender Blick verweilte auf ihm.
«Wenn Sie vielleicht glauben, dass John Arundells Geist zurückkehrte und Emily befahl, ihr Geld Minnie Lawson zu hinterlassen, was Emily prompt tat, dann sind Sie auf dem Holzweg. Emily war nicht so albern. Meiner Ansicht nach fand sie Spiritismus eine Kleinigkeit unterhaltender als Patience oder Whist. Kennen Sie die Tripps?»
«Nein.»
«Eben – sonst wüssten Sie, was für ein Blödsinn das Ganze ist. Unerträgliche Weiber! Richten einem immer Botschaften von Verwandten aus, lauter ganz verkehrte. Und glauben daran. Auch Minnie Lawson glaubte daran. Na, ein Zeitvertreib ist so gut wie der andere.»
Poirot wechselte das Thema erneut. «Sie kennen den jungen Charles Arundell? Wie ist der junge Mann?»
«Ein Taugenichts. Ein Charmeur. Immer blank, immer verschuldet, wird überall zurückgeschickt wie ein falscher Fünfziger. Weiß die Frauen herumzukriegen. Komisch, dass der langweilige alte Thomas einen solchen Sohn hatte! Der war ein Muster an Rechtschaffenheit. Der Junge muss mütterlicherseits schlechtes Blut in sich haben. Bitte, ich persönlich kann ihn gut leiden. Aber er ist der Typ, der ohne weiteres seine Großmutter für ein paar Pfund umbringen würde. Keine Spur von Moral.»
«Und seine Schwester?»
«Theresa?» Kopfschüttelnd antwortete Miss Peabody: «Tja, ich weiß nicht. Exotische Person. Ungewöhnlich. Mit dem langweiligen Doktor verlobt. Kennen Sie ihn?»
«Doktor Donaldson?»
«Ja. Tüchtiger Arzt. Aber ich nähm’ ihn nicht, wenn ich ein junges Mädchen wäre. Na, das ist Theresas Sache.»
«Behandelte auch Doktor Donaldson Miss Arundell?»
«Nur wenn Grainger Ferien machte.»
«Aber nicht während ihrer letzten Krankheit?»
«Glaube nicht.»
Lächelnd fragte Poirot: «Ich vermute, Miss Peabody, dass Sie von ihm als Arzt keine hohe Meinung haben.»
«Das habe ich nicht gesagt. Im Gegenteil, er kennt sich aus und ist tüchtig auf seine Art – aber es ist nicht die Art, die mir zusagt. Er wird aber wohl nicht allzu lange in Basing bleiben. Er will nach London – als Spezialist.»
«Wofür?»
«Serumtherapie, glaube ich, heißt das. Wissen Sie, das ist das, wo man jemandem eine Injektionsnadel hineinsticht, auch wenn’s ihm ganz gut geht – bloß für den Fall, dass er einmal irgendetwas erwischt. Ich bin nicht für solche Sachen.»
«Befasst sich Doktor Donaldson mit irgendeiner bestimmten Krankheit?»
«Da fragen Sie mich zu viel. Ich weiß nur, dass ihm Allgemeinmedizin nicht gut genug ist. Er will sich in London selbstständig machen. Aber dazu gehört Geld, und er ist arm wie eine Kirchenmaus – übrigens, was ist eigentlich eine Kirchenmaus?»
Poirot murmelte: «Schade, dass wahres Talent so oft durch Geldmangel gehemmt ist. Und dabei gibt es Menschen, die nicht einmal ein Viertel ihrer Einkünfte ausgeben.»
«Wie Emily Arundell», meinte Miss Peabody. «So mancher war starr, als das Testament verlesen wurde. Wegen der Höhe des Betrags, meine ich, nicht wegen der Bestimmungen.»
«Waren auch die eigenen Angehörigen überrascht?»
«Ja und nein. Einer witterte was.»
«Wer?»
«Charles. Er hatte ein bisschen nachgerechnet, denn er ist nicht dumm, der junge Mann.» Sie machte eine kurze Pause und fragte dann: «Werden Sie sich mit ihm in Verbindung setzen?»
«Ich habe die Absicht», erklärte Poirot würdevoll. «Vielleicht befinden sich in seinem Besitz Familienpapiere über seinen Großvater.»
«Kaum. Viel eher hat er sie verbrannt. Der junge Mann hat keinen Respekt vor alten Leuten.»
«Man darf nichts unversucht lassen», erwiderte Poirot.
«So scheint es», versetzte Miss Peabody trocken, und in ihren blauen Augen lag für eine Sekunde ein Glitzern, das Poirot unangenehm zu berühren schien. Er erhob sich.
«Ich darf Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Jedenfalls bin ich Ihnen für Ihre Auskünfte sehr dankbar.»
«Ich habe mein möglichstes getan», sagte Miss Peabody. «Wir scheinen vom indischen Aufstand sehr weit abgekommen zu sein, nicht wahr?
Verständigen Sie mich, wenn das Buch erscheint», waren ihre letzten Worte. «Es würde mich ja so interessieren!»
Hinter uns hörten wir ein vergnügtes Kichern.